Sexualität, Begehren und seine Natürlichkeit
- Jonas Billstein
- 26. Feb.
- 23 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. März

Oft wird behauptet, Sexualität sei das Natürlichste der Welt. In ihr bestehe eine Schnittstelle zwischen Menschen und allen anderen sich auf diese Art fortpflanzenden Wesen.
Gerät sie aus den Fugen, bedeute dies einen negativen Einfluss der Psychologie gegenüber unserer gemeinsamen "ersten Natur".
Solche Behauptungen erweisen sich meistens als sehr resistent gegenüber den offensichtlichen Widersprüchen zwischen menschlicher und tierischer Sexualität. Bei genauerer Betrachtung ist es sehr fragwürdig, für beide überhaupt denselben Begriff zu verwenden.
Zum Beispiel ist Sex im Tierreich nie Selbstzweck und unmittelbare Quelle der Lust, sondern ein möglichst kurzes, oft schmerzhaftes und manchmal tödliches Mittel zum Zwecke der Fortpflanzung. Es geht nie – abgesehen von einigen wenigen Primatenarten, die von Verfechtern der Biologisierung der Sexualität gerne zum Stellvertreter für das gesamte Tierreich genommen werden – um den Akt als solches. Er ist kein Ausdruck von Zuneigung oder anderen Gefühlen und Einstellungen. Beim Tier befriedigt er nur den Trieb.
Man könnte also – wie Slavoj Žižek es tut – auch behaupten, Sexualität sei genau die Stelle, wo der Mensch mit der Natur scheidet. Sicherlich besteht eine Restbindung. Gewisse Gemeinsamkeiten zwischen natürlicher Fortpflanzung und menschlicher Sexualität lassen sich noch finden. Es ist ähnlich wie bei der Ernährung: Zwar teilen Menschen mit Tieren die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme, aber der Mensch entwickelt seine Ernährung nicht instinktiv, sondern anhand seiner individuellen soziokulturellen Prägungen.
Selbst wenn man diese abziehen würde, ließe sich keine Definition einer "natürlichen menschlichen Ernährung" finden.
Die gesunde Ernährung des einen Menschen kann den sicheren Tod eines anderen bedeuten. Und damit sind nicht nur die unzähligen Allergien und Unverträglichkeiten gemeint. Stoffwechsel und Verdauung variieren in bei anderen Lebewesen unvorstellbarer Weise. So wie sich der Mensch nicht instinktiv zu bestimmten Nahrungsmitteln hingezogen fühlt, sondern seine kulinarischen Vorlieben kulturell erwirbt, ist auch seine Sexualität nicht naturgegeben, sondern durch Symbole, Erzählungen und gesellschaftliche Strukturen geformt.
Sexkultur
Tiere einer Art haben weder nennenswerte verschiedene Kulturen noch daraus resultierende verschiedene sexuelle Vorlieben. Bis auf unbedeutende Abweichungen sind Dauer, Form und Inhalt jedes tierischen Geschlechtsverkehrs innerhalb der Gattung identisch. Was man vom Menschen beim besten Willen nicht behaupten kann.
Hier findet sich eine unendliche Vielfalt an verschiedenen Bedürfnissen, Praktiken und Philosophien. So viele, dass man fragen könnte, ob es beim Menschen überhaupt ein Geschlechtsverkehr ist. Dieser Begriff bezeichnet nämlich einen eher nebensächlichen Aspekt dessen, was menschliche Sexualität ausmacht.
Ganz abgesehen davon, dass sexuelle Handlungen in vielen Fällen gar keine Penetration oder anderweitige Stimulation der Geschlechtsorgane beinhalten, schließt keine sexuelle Orientierung alle entsprechenden Individuen mit ein. Ein Beispiel wäre jemand, der sich zu Frauen hingezogen fühlt, aber nur zu einem bestimmten Typ (z. B. starke, dominante Frauen).
Anders als in der Tierwelt. Dort wird zwar durch Selektion der bestmögliche Paarungspartner ausgewählt, aber diese Selektion ist eine graduelle. Prinzipiell könnte jedes Individuum des anderen Geschlechts den (Fortpflanzungs-)Trieb befriedigen, wenn kein besseres zur Verfügung stünde. Beim Menschen ist dies nicht der Fall.
Ein Mann findet nicht prinzipiell jede Frau geil und andersherum.
Der Mensch selektiert nicht anhand genetischer Kompatibilität, sondern ganz individueller Kategorien. Den Satz: „Mit dir würde ich nicht einmal schlafen, wenn du der letzte Mensch auf der Welt wärst“, könnte man Tieren nicht unterstellen.
Im Sinne der Fortpflanzung ist der Mensch also hochgradig pervers. Es geht nie um die Sache selbst.
Es ist möglich, auch bei Tieren Perversionen – im Sinne einer Verschiebung des Triebes auf andersartige Objekte – zu erzeugen. Es gab zum Beispiel Experimente, bei denen Zebras im erregten Zustand immer wieder bestimmte Objekte gezeigt wurden. Später führten die Objekte selbst zu Erregung. Allerdings steht hinter diesem Phänomen eine aufwendige Manipulation durch den Menschen. Diese Ergebnisse belegen also eher, dass es möglich ist, Tiere mit der menschlichen Perversion zu infizieren, als dass sie von sich aus dazu tendieren würden.
Bei Tieren gibt es tatsächlich ein Geschlechterverhältnis. Beim Menschen ist diese Aussage nicht haltbar. Das führt uns zu der Frage, was die menschliche Sexualität letztendlich ausmacht. Wie wird Notwendigkeit zu Erotik?
Das Begehren
Der entscheidende Faktor für die menschliche Sexualität ist das Begehren. In diesem Artikel wird versucht, die verschiedenen Dynamiken und Mechanismen des Begehrens zu erfassen. Anhand der Arbeiten von Jacques Lacan und Slavoj Žižek werde ich untersuchen, wie es entsteht, sich entfaltet und in welchem Zusammenhang es zur Sexualität steht.
Dafür wird es notwendig sein, sonst zusammenwirkende Phänomene zu trennen. Durch eine isolierte Betrachtung wird ein tieferes Verständnis möglich.
Allerdings hat dieses Vorgehen einen Preis, der in der modernen Verherrlichung der Wissenschaft gerne unter den Tisch gekehrt wird. Mit jeder Fokussierung tritt auch eine De-Fokussierung und Verzerrung des Gesamtbildes ein. Theorien sind immer eine Art Karikatur – sie überspitzen einen bestimmten Aspekt, um sichtbar zu machen, was sonst in der Masse verschwimmt.
Wie David Graeber sagte: „Alle Erkenntnisse beruhen auf dem Mut, Dinge zu sagen, die im Grunde lächerlich sind.“
Trotzdem kann vor allem für Menschen die ihre eigene Sexualität als nicht ausreichend befriedigend erleben, eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Begehren extrem bereichernd sein. Vorausgesetzt, die abstrakten Theorien werden durch sinnliche Erfahrungen in der eigenen Wirklichkeit überprüft und verbunden. Das reine Intellektualisieren von Problemen ist eine beliebte Strategie, um dem Aufwand echter Veränderung zu vermeiden.
Definition des Begehrens
In diesem Sinne: Das Begehren ist ein dynamisches, unaufhörliches Streben, das die gesamte menschliche Existenz durchzieht. Es entspringt einem dem Menschen immanenten Mangel, wird durch die Phantasie strukturiert und dann mit Objekten des Begehrens verknüpft. Der Mangel ist unstillbar, weshalb ein konkretes Begehren zwar befriedigt werden kann, das Begehren selbst aber nicht.
Vereinfacht gesagt ist der Mensch zutiefst davon getrieben ist, eine Lücke in seinem Inneren auszufüllen. Jeder muss selbst entscheiden, ob er diese Lücke als in der conditio humana vorgegeben oder Ergebnis der Sozialisation betrachtet.
Gänzlich abzulehnen ist sie meiner Meinung nach nicht. In gedankenlosen oder ekstatischen Zuständen ist es möglich, es zu vergessen, aber irgendwas fehlt immer. Wir alle kennen den Gedanken: "Wenn ich das habe/erreiche/bekomme, dann..." endlich befriedigt zu sein, sowie seine Falschheit. Zufriedene Menschen unterscheiden sich von den Unzufriedenen lediglich in der Art und Weise, wie sie mit ihrem inhärenten Mangel umgehen, nicht dadurch, dass sie keinen haben.
Der Mangel
Nach Lacan ist der Mangel die treibende Kraft hinter dem menschlichen Streben nach mehr.
Der Phantasie kommt dabei die Aufgabe zu, für das aus dem Mangel entstehende Begehren ein passendes Objekt auszuwählen. Er spricht von dem Objekt des Begehrens als „Objekt a“.
Wir spüren, dass etwas nicht stimmt, etwas fehlt und imaginieren mithilfe der Phantasie eine Ergänzung, die diese Lücke füllen könnte. Dieses imaginierte „Objekt a“ ist jedoch nie wirklich das, was fehlt, sondern lediglich eine Projektion unseres Begehrens. Der Sportwagen, die ideale Liebespartnerin, der soziale Status – all diese Dinge erscheinen als potenzielle Erfüllungen unseres Mangels, doch sobald sie erreicht sind, verschiebt sich die ersehnte Befriedigung erneut auf ein neues Objekt. Sie sind Stellvertreter für den unstillbaren Mangel, der das Begehren antreibt, aber niemals durch seine gefüllt werden kann.
Die phantastische Kreativität des Begehrens ist unendlich, eben weil es niemals befriedigt werden kann. In alten Zeiten wurde versucht es in Schach zu halten. Die Kirche predigte Enthaltsamkeit von der unmittelbaren Verfolgung des Begehrens und versprach Erfüllung im Jenseits. Das Streben nach mehr war den Königen vorbehalten. Für die Phantasie der Bevölkerung wurde mit dem Paradies ein einziges Objekt des Begehrens vorgegeben.
Spätestens Ende des 18 Jahrhundert konnte dieses starre Paradigma seine Aufgabe nicht mehr erfüllen. Mit der Industrialisierung und der Entstehung des Kapitalismus veränderte sich das Verhältnis zum Begehren grundlegend. Der Wunsch nach Wachstum, Fortschritt und persönlichem Erfolg wurde nicht mehr unterdrückt, sondern systematisch angeheizt.
Die Moral der Moderne verspricht Erfüllung im Diesseits aber verschiebt das Begehren von einem Objekt zum nächsten, ohne endgültige Sättigung. Diese Unabschließbarkeit ist es, die den endlosen Fortschritt von Kultur, Sprache und Kreativität antreibt, aber auch Unzufriedenheit und innere Zerrissenheit hervorbringt.
Unabhängig vorauf findet also immer eine gewisse Verschiebung statt. Anstatt den Mangel anzuerkennen, versucht das Begehren, ihn zu füllen. Der Mangel des Menschen kann nie vollständig gefüllt werden. Er kann sich dieser Realität aber auch nicht vollständig bewusst werden. Sexualität findet genau in dieser Struktur statt.
Die Phantasie
„Das Fehlen einer festen Formel für das sexuelle Verhältnis wird durch phantasmatische Zusätze kompensiert, die konstitutiv für die menschliche Sexualität sind. Sie ist es, was tierische Paarung in menschliche Erotik verwandelt...“ - Slavoj Zizek
Menschen wählen ihre Sexualpartner primär danach aus, inwiefern sie ihren Vorstellungen entsprechen. Die Kriterien entsprechen keinen biologisch determinierten Notwendigkeiten.
Ideale, Werte und Schönheit liegen im Auge des Betrachters und werden in der Phantasie strukturiert.
Deshalb können manche Flugzeuge genauso erotisch finden wie andere ihre Traumfrau.
Die Amerikanerin Erika LaBrie heiratete 2007 den Eiffelturm und änderte ihren Namen in Erika Eiffel. Die Phantasie entsteht ihrerseits hauptsächlich durch Interpretation der Umwelt.
Natürlich sind auch innerphysische Eindrücke sowie bestimmte Veranlagungen miteinzubeziehen, aber maßgeblich entsteht sie als ein Abbild der Außenwelt. Begehren ist immer vermittelt.
Es gibt kein natürliches Begehren. Deshalb begehrten die Menschen zu verschiedenen Zeiten vollkommen verschiedenes. Die verschiedenen Schönheitsideale im Laufe der Geschichte sind nur ein Beispiel.
Dies erklärt die sonst unerklärbaren phantastischen Verschiedenheiten der menschlichen Sexualität und auch, warum sie so empfindlich ist. Vermutlich hat jeder mehr Beispiele für die Fragilität sexueller Erregung als ihm lieb ist.
Sie ist keine triebhafte Konstante, die auf ihren Einsatz wartet, sondern ein phantasmatisches Konstrukt, das sorgsam in der Vorstellung aufgebaut und behütet werden muss. Eine falsche Bemerkung, eine kleine Unachtsamkeit und dahin ist die Lust. Sie entsteht durch bewusste oder unbewusste Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die erotischen Aspekte des Erlebens. Wird diese Fokussierung gestört, verschwindet auch die Erotik.
„...Bebt beispielsweise ein Mann vor Erregung beim Anblick der Vagina, kann es sein, dass durch ein kurzes Moment der Irritation dieser phantasmatische Schleier zerreißt und der erotische Zug zum Erliegen kommt...“ - Slavoj Zizek
Lust vs. Begehren
Sicherlich spielen auch hormonelle Faktoren eine entscheidende Rolle. Beispielsweise können die Wechseljahre bei Frauen die Lust befeuern oder zum erliegen bringen. Doch beeinflussen Hormone wenn überhaupt die Stärke des Triebes, nicht worauf er gerichtet ist. Die verschiedenen Vorlieben des Menschen sind genauso wenig durch die Biologie zu erklären wie Poesie und Briefmarkensammlungen.
Insofern unterscheidet sich das Begehren von der Lust, die ich in diesem Kontext als Ausdruck eines biologischen Triebes definiere.
Triebhafte Lust ist ihrer Natur nach unbestimmter und nicht so stark an ein Objekt gebunden wie das Begehren.
Häufig wird der Antike eine triebhaftere Sexualität nachgesagt, während nach der Eindämmung durch die Kirche das objektbezogene Begehren in den Vordergrund getreten ist. Die alten Griechen waren wohl weniger festgelegt, wie oder mit wem sie ihre Triebe befriedigten. Zum Beispiel gab es nicht einmal eine begriffliche Unterscheidung zwischen hetero- und homosexuell.
Ob diese Unterscheidung den historischen Tatsachen entspricht, wird an dieser Stelle vernachlässigt. Sie dient nur als Metapher, um zu verdeutlichen, dass Sexualität weder mit Lust noch Begehren unmittelbar verbunden ist.
Es ist sogar möglich, Sex zu haben, ohne Lust oder Begehren zu empfinden. Sei es aus emotionalen Erwartungen, als Reaktion auf unausgesprochene Beziehungskonventionen, sozialem Druck oder Schlimmerem.
Diese Unterscheidung entspricht in etwa der zwischen Hunger und Appetit. Lust als körperliches Bedürfnis wäre mit dem Hunger zu vergleichen und das Begehren mit dem Appetit auf ein bestimmtes Gericht.
Es ist allgemein bekannt, dass beides auch unabhängig voneinander auftreten kann. Dasselbe gilt meiner Meinung nach für Lust und Begehren.
Liegt Sexualität in der menschlichen Natur?
Interessanterweise ist die Existenz der Lust als körperliches Bedürfnis bei weitem nicht so unbestreitbar wie die des Hungers. Unzählige Menschen überleben problemlos, ohne jemals sexuell aktiv gewesen zu sein.
Ob die psychische oder physische Energie, welche die Sexualität speist, überhaupt zwangsläufig mit ihr verbunden ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Man könnte vielleicht dafür argumentieren, dass sie dort ihren gesündesten Ausdruck findet, aber selbst das bleibt eine offene Frage.
Es ist allgemein bekannt, dass Menschen ihre Energie aus verschiedenen Gründen von der unmittelbaren Befriedigung durch Sexualität abziehen können, um sie in andere Bereiche zu leiten. Sigmund Freud nennt diese Energie Libido und ihre Umleitung auf kulturell anerkanntere Ziele Sublimierung. Ein einfaches Beispiel wäre jemand, der zugunsten seiner Karriere beschließt, vorerst auf sexuelle Kontakte zu verzichten, um sich auf seine Arbeit zu fokussieren.
Außerdem heißt es in der Theorie der Psychoanalyse, dass, wenn die Libido stattdessen nicht im Zuge einer bewussten Entscheidung, sondern beispielsweise wegen frustrierender Erfahrungen von der Sexualität abgezogen wird, ohne ein passendes neues Ziel zu finden, sie sich gegen die eigene Person richten kann.
Dies führt entweder zu krankhafter Selbstliebe des Narzissmus (bei der die Libido dem Ich zufließt) oder psychischen Störungen wie beispielsweise der Hypochondrie.
Das erklärt, warum bei den meisten psychischen Störungen die Sexualität eingeschränkt wird und stellt darüberhinaus die sexuelle Lust als biologisch angelegte Komponente in Frage.
Dabei will ich nicht die Psychoanalyse als Erklärungsmodell für die Natur der menschlichen Sexualität vorschlagen.
Der ihr zugrundeliegende Ödipuskomplex, Penisneid und Kastrationsangst sind meines Erachtens nach ebenso hanebüchend wie der Gedanke, Sexualität entspringe unserer biologischen Natur. Von Interesse sind allerdings ihre Beobachtungen hinsichtlich der Verschiebbarkeit der menschlichen Libido.
Dieselbe Libido kann auf sexuelle Interaktion, beruflichen Erfolg oder Videospiele ausgerichtet werden. Geil sein kann man auf alles Mögliche. Was oder wen wir begehren, ist nicht durch unsere Gene vorgegeben, sondern vielmehr ein Ergebnis unserer soziokulturellen Prägungen.
Nur so lassen sich der (rasante) Wandel und die Vielfältigkeit der menschlichen Sexualität sowie ihr genereller Rückgang verstehen.
Der "Sex-Regress"
Die aktuellen Zahlen und Trends verweisen auf einen starken Rückgang der sexuellen Aktivitäten. In den USA ist die sogenannte "Sex-Regression" vor allem in den Jahrgängen seit 2000 nachgewiesen. In Deutschland sowie in den meisten technologisch entwickelten Ländern zeigen die Zahlen einen ähnlichen Trend.
Eine Studie zum Verlauf der sexuellen Aktivität seit 1994 misst aktuell "den niedrigsten bisher gemessenen Wert."
Wäre auch nur die Intensität der sexuellen Lust biologisch vorgegeben und diese Lust wäre zwangsläufig mit der Sexualität verbunden, müsste man annehmen, dass sich die Biologie des Menschen in einer für die Evolution unbekannten Geschwindigkeit verändert.
Solche Studien sind natürlich angreifbar. Sexualität ist ihrem Wesen nach eine Privatsache. Wie wir später noch sehen werden, lässt sie sich unversehrt nicht ins Licht der Öffentlichkeit stellen.
Die Ergebnisse sind nicht besonders verlässlich. So berichteten in einer weit angelegten Umfrage von 2021 heterosexuelle Männer im Alter von 18–75, dass sie bislang im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 9,8 gegengeschlechtliche Sexualpartnerinnen hatten, während es bei den heterosexuellen Frauen nur 6,1 Sexualpartner waren.
Paradoxien wie diese zeigen, dass der Hauptteil der Bevölkerung aus persönlichen oder systemischen Gründen einfach nicht an solchen Umfragen teilnimmt. Außerdem beschönigen Menschen unbewusst ihr Sexualleben auch sich selbst gegenüber. Was auch immer beschönigen in ihrem individuellen Fall bedeutet.
Zudem gilt der akademische Merksatz: "Traue keiner Studie die du nicht selber gefälscht hast".
Verschiebung der Libido
Alleine sind diese Statistiken zwar nicht aussagekräftig, aber es gibt jede Menge Übereinstimmungen mit Beobachtungen aus anderen Gebieten. Vor allem in der angewandten Psychologie aus den therapeutischen Praxen ist das Phänomen lange bekannt. Sigmund Freud schrieb schon 1920:
„Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiss und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen.“
Dieser Rückgang wäre durch eine Sexualität als Ausprägung der Biologie nicht erklärbar. Beziehen wir aber das durch die Phantasie vermittelte Begehren mit ein, wird es möglich zu untersuchen, warum die "Bedeutung der Sexualität als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat. Manchmal glaubt man zu erkennen, es sei nicht allein der Druck der Kultur, sondern etwas am Wesen der Funktion selbst versage uns die volle Befriedigung und dränge uns auf andere Wege."
Dieses Zitat stammt ebenfalls von Freud. Wie gesagt, begann er bereits vor mehr als 100 Jahren mit dem Konzept der Libido zu erörtern, dass was oder wen wir begehren, nicht durch unsere Gene vorgegeben, sondern vielmehr ein Ergebnis unserer soziokulturellen Prägungen sei.
Sexualität ist nur ein mögliches Objekt des Begehrens und es scheint aus der Mode zu kommen. Menschen müssen zwar Sex haben, um sich fortzupflanzen, aber diese Notwendigkeit macht nur einen minimalen Teil der Sexualität aus. Alles Weitere ist optional. Wenn Sex, wie im Zitat angedeutet, für unser Begehren nicht mehr als reizvolles Objekt wahrgenommen wird, kann es sich genauso gut woanders festsetzen.
"The human race is oversexed but underfucked" - Anthony Burgess'
Doch wenn Begehren in der Phantasie als Abbild der äußeren Eindrücke entsteht, würde das bedeuten, dass gerade eine Generation, die in ständiger Konfrontation mit Pornografie, Freizügigkeit und der Veröffentlichung der Sexualität aufwächst, nichts anderes im Kopf hat als Sex. Dem ist jedoch nicht so. Im Gegenteil.
„The present study finds that the Millennial birth cohorts, particularly those born between 1985 and 1994, had the highest sexual activity while the Generation Z birth cohorts born after 2000 had the lowest rates of sexual activity.“
Oft sind ältere Generationen überrascht, festzustellen, dass die sprichwörtliche Jugend von heute, in den Worten von Burgess, zwar „oversexed, aber underfucked“ ist.
Eine naheliegende Erklärung für diesen Umstand wäre, dass – wie eingangs erwähnt – die geradezu öffentliche Inszenierung der Sexualität entgegenwirkt, weil sie ihrem Wesen nach eine Privatangelegenheit ist.
Sie erhält ihren Reiz durch das Verborgene, Intime, und der moderne Bekenntniszwang zerrt sie in das Licht der Öffentlichkeit. Die Medien triefen nur so vor Nacktheit und Erotik.
Die Konsenskultur verlangt die Offenlegung aller Phantasien. In den USA und Kanada z.B. steigt die Zahl der Consens-Apps, mit denen Inhalt und Ablauf des Aktes vertraglich festgelegt werden um eine für alle Beteiligten befriedigende Einigung auf die Praktiken zu ermöglichen. Sicherlich ein extremes Beispiel aber es ist klar zu erkennen, inwiefern die Enttabuisierung mittlerweile in ihr genaues Gegenteil umgeschlagen ist. Aus dem Drang zur Unterdrückung wurde der Drang zur Offenlegung. Diese Publizierung beraubt den Einzelnen seiner privaten Sexualität und erklärt sie zum Allgemeingut.
Sex wird zunehmend an die Ideale der öffentlichen Ordnung angepasst. Spätestens seit der Verbreitung von Ehe-Manuellen mit Sexualtechniken in den 1920er Jahren gibt es immer mehr Ansprüche an eine gewinnbringende Sexualität.
Diese Aufklärung mag mit den besten Absichten stattfinden, verwandelt jedoch in ihrer Dialektik den Akt in eine Art Kompetenztest. Intimität wird zur Performance. Je mehr Content es gibt, desto mehr wird der Einzelne dazu verleitet, sich und seinen Partner mit Vergleichen zu belasten.
Die Angst, im Bett nicht ausreichend performen zu können und in Schande gegenüber dem besseren Liebhaber zu geraten, lag wohl der schon Fetischisierung der Jungfräulichkeit im Mittelalter zugrunde, hat aber durch Pornhub & Co. exponentiell zugenommen.
Ironischerweise führte die neuere Konstruktion der Sexualität als einen „natürlichen Prozess“, in dem die Menschen ihrer Lust einfach nur freien Lauf lassen sollten, dazu, dass die Durchführungsangst als ein persönlicher Makel betrachtet wird. Erst wurde ein ideales Bild der Sexualität verbreitet und dann verurteilt, wer sich davon einschüchtern ließ.
Pornographische Sexualität
Ich möchte noch einen anderen Grund vorschlagen, aus dem die Sexualität ungeeignet ist, um mit zunehmender Zur-Schau-Stellung begehrenswerter zu werden.
Für Luxus- und Konsumgüter gilt das nämlich offensichtlich nicht. Gucci & Co. werden umso begehrter, je mehr sie zur Schau gestellt werden. Warum steigert Inszenierung die Attraktivität von Konsumgütern, aber nicht die der Sexualität?
Der folgende Erklärungsversuch ist besonders übergespitzt formuliert. Mir fehlen Kenntnis und Fähigkeit für eine realitätsgetreuere Beschreibung. Außerdem sind viele der Mechanismen – etwa der Wunsch nach Übereinstimmung mit einem potenziellen Partner bis zu einem gewissen Grad völlig natürlich und sogar förderlich für gesunde Beziehungen. Erst in der Übersteigerung können sich problematische Dynamiken entwickeln. Es ist wie so häufig ein Unterschied im Grad, nicht in der Art.
In diesem Sinne ließe sich die Frage, warum Sexualität ihren Reiz durch die öffentliche Darstellung eher verliert als erhöht, während dies für viele andere Dinge nicht gilt, beantworten mit: Weil sie eben kein Ding ist. Noch nicht.
In einer zunehmend marktförmigen Gesellschaft wird nämlich selbst die Sexualität zur Ware. Sie soll nicht mehr fordern oder ablenken, sondern sich der Nachfrage anpassen.
Der Übergang von intimer zu öffentlicher Sexualität ist letztlich eine Kommodifizierung.
Auch hierfür ein Vergleich zur Ernährung: Eine gesunde Ernährungsweise zu finden, erfordert Zeit, Vertrauen und die Fähigkeit, zwischen echten Bedürfnissen und äußeren Manipulationen zu unterscheiden. Um sich nicht ausschließlich von den falschen Versprechungen der Industrie zu Diäten, Trends und anderen Lösungen verführen zu lassen, muss man auf sein Bauchgefühl hören. Wie viele behaupten dann nur noch, ungesund zu essen, zeigt, wie leicht es ist, den Bezug zum eigenen Körper zu verlieren.
In dieser Orientierungslosigkeit wird gesunde Ernährung durch die scheinbar einfache Lösung von Vitaminpillen ersetzt.
Der Einfachheit halber: Es wäre zwar möglich, einen eigenen, nachhaltigeren Bezug zur Ernährung aufzubauen, aber das wäre zu kompliziert für die moderne Konsumgesellschaft. Es muss schnell gehen, funktionieren und darf nicht ablenken. Alles andere ist sekundär bzw. gerät schnell in Vergessenheit.
Ein ähnliches Schicksal ereilte die Sexualität. Die beiden hängen nicht unbedingt zusammen. Wer Essen in diesem Sinne konsumiert, muss nicht unbedingt dasselbe mit der Sexualität tun und umgekehrt. Doch das zugrundeliegende Muster ist auffallend ähnlich.
Auch die rohe Unberechenbarkeit der Sexualität, ihre Forderung nach Hingabe, Offenbarung und Verletzlichkeit, wird durch ein formbares Produkt ersetzt.
Dies ist besonders offensichtlich in der Pornografie, doch auch der physische Akt des Sex nimmt zunehmend diese Formen an. Das Scrollen auf Pornhub unterscheidet sich nur unwesentlich vom Swipen bei Tinder.
Ein austauschbares, weil ausgehöhltes Ersatzprodukt verdrängt das Original.
Wie Pornografie den Akt in eine konsumierbare Aufführung verwandelt, macht Tinder den Menschen selbst zur Ware: bewertbar, vergleichbar, austauschbar. Wenn es zum Sex kommt, entspricht er oft dem Vorbild der Pornografie.
Anstatt sich auf einen gemeinsamen Entdeckungsprozess einzulassen, wird ein bestehendes Skript möglichst genau umgesetzt. Man weiß bereits, was man will. Der Andere soll es einem hoffentlich besorgen. Wenn er es nicht bringt, weiterswipen oder vielleicht einfach eine Serie gucken. Sex ist zu einem Produkt unter vielen geworden. Nichts Besonderes mehr. Austauschbar.
Pornographie ist in diesem Kontext nur der Endpunkt für die tendenzielle Kommodifizierung der Sexualität. Sie schreibt sich in die Realität ein und verwandelt sie in eine simulierte Erfahrung in der das Gegenüber keine unvorhersehbare Dynamik in das Geschehen einbringen darf. In der hybriden Version wird aus dem Sex eine Masturbation am Partner.
Genuss als Tugend
Die Sexualität steht zunehmend unter demselben Diktat des Genießens, wie alle Produkte. Sie soll etwas bringen. Genießen ist eine Pflicht geworden. Wie viele fühlen sich schuldig, schämen sich vor sich selbst, weil sie es nicht schaffen, ihr Leben so zu genießen wie die Menschen im Fernsehen? Die Sexualität ist denkbar ungeeignet, um diesem Zwang gerecht zu werden. Sie entzieht sich jedem „Sollen“ und hinterlässt eine diffuse Leere und Langeweile.
Hier schließt sich der Kreis zur weiter oben zitierten Überlegung, warum die „Bedeutung der Sexualität als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszwecks, empfindlich nachgelassen hat.“
Als schnelles Mittel zu Befriedigung gesehen ist Sex wirklich keine naheliegende Wahl in der endlosen Palette von Produkten. Auch in der Tinderversion ist es noch verhältnismäßig aufwendig, fordert eine gewisse Hingabe und bietet viel Risiko für Frustration. So gesehen ist es verständlich, dass die Nachfrage weniger wird.
Das Fehlen des Anderen
Was die pornographische Sex von Sexualität im eigentlichen Sinne unterscheidet, ist das Fehlen eines echten Anderen. Das Subjekt der Verführung ist der Andere. Er verführt dazu von sich abzuweichen. Das Risiko zu wagen über sich hinaus zu gehen.
Die Polarität zwischen beiden ist die notwendige Voraussetzung in der der Einzelne durch die Andersheit – die Fremdheit des Anderen – auch seine eigene erkennt.
In der Vereinigung mit dieser gemeinsamen Negativität, entsteht etwas Neues, das allein nicht möglich wäre.
Doch der Andere ist auch störend. Er passt nicht, ist nicht unmittelbar gewinnbringend verwertbar. Deswegen wird er zunehmend ausgemerzt.
Die Begegnung mit einen Anderen wird in einer sexualisierten Konsumkultur zunehmend ausgeschlossen. Was bleibt, ist eine simulierte Interaktion, in der das Andere nicht mehr als echtes Gegenüber wahrgenommen wird, sondern nur noch als Projektionsfläche für eine vorgefertigte Phantasien dient.
Die Paradoxien der Lust
Nun hieß es aber eben: „Begehren entsteht in der Phantasie“. Wie passen diese beiden Positionen zusammen?
Zu behaupten, Sexualität erfordere ein Hinausgehen über die eigenen Grenzen, aber gleichzeitig ihre Quelle innerhalb der eigenen Phantasien zu verorten, scheint widersprüchlich.
Wir können uns diesen Widerspruch am besten veranschaulichen, indem wir fragen, warum es so oft vorkommt, dass langjährige Partner zwar tiefe Liebe füreinander empfinden, ihr sexuelles Verlangen füreinander aber mit der Zeit erlischt.
Meistens wird die Biologie dafür verantwortlich gemacht. Der Reiz sei der des Neuen (möglichst viel Erbgut verteilen usw.), und mit der Zeit lasse dieser notwendigerweise nach. Gewohnheit tötet wohl die Lust.
Halten wir uns nicht mit der Auflistung der zahlreichen Gegenbeweise auf und bleiben stattdessen bei der Prämisse, dass das sexuelle Begehren beim Menschen nicht biologisch, sondern eine individuelle Ausprägung seiner Phantasien ist.
Dann eröffnen sich andere Erklärungsmöglichkeiten.
Lieben vs. Begehren
Zum Beispiel könnten wir behaupten, je besser man einen Menschen kennen und schätzen lernt, desto weniger taugt er als Projektionsfläche für die eigenen Phantasien.
Zu lieben bedeutet, von seinen egoistischen Verlangen abzulassen und den anderen in seiner radikalen Einzigartigkeit zu akzeptieren. Ihn zu schätzen in all seinen Eigenschaften.
Nicht zu verwechseln mit der Idealisierung der Verliebtheit, in der die negativen, schmerzhaften Eigenschaften des Gegenübers ignoriert oder idealisiert werden.
Jeder kennt die Umkehrung, wenn auf einmal die in der Phase der Verliebtheit so geschätzten Macken, all die niedlichen Fehler und charmanten Eigenheiten des Gegenübers in aller Brutalität zurückschlagen, sobald die „rosarote Brille“ abgenommen wurde.
In der Liebe hingegen werden diese Makel mit in das große Ganze aufgenommen und ermöglichen so eine gemeinsame Lebendigkeit mit all der Freude und dem Leid, was dazugehört. Auch die Liebe kann den Mangel des Einzelnen nicht vollständig füllen – doch sie versucht es auch nicht.
Den anderen mit all seinen Fehlern anzunehmen, bedeutet, ihn nicht zum Objekt des eigenen Begehrens zu machen, indem man ihn den eigenen Vorstellungen entsprechend zu formen versucht.
Ebenso bedeutet es, seinen Mangel anzuerkennen, statt sich ihm als Objekt zur Erfüllung anzubieten. All seine Unstimmigkeiten anzunehmen, zu akzeptieren, dass er nie ganz zufrieden sein wird und trotzdem weder der Versuchung zu erliegen, sich ihm als „Objekt a“ anzubieten, noch seinen Mangel anderweitig füllen zu wollen.
Liebende suchen nicht mehr nach dem perfekten Objekt, sondern bejahen den anderen in seiner Unvollständigkeit.
Es ist die radikalste Geste, ein Aussteigen bzw. Herausfallen (engl. „to fall in love“) aus der gewöhnlich rationalen Kosten/Nutzen-Analyse des Lebens in eine alternativlose Verbundenheit. Insofern ist sie keine Entscheidung, ist bedingungslos und verlangt nicht, sondern:
„Lieben heißt, jemandem etwas zu geben, was man nicht hat.“ – Jacques Lacan
Die Kunst des Liebens
Erst durch die Liebe wird es möglich, vom egoistischen Streben nach maximalem Eigennutz abzulassen. Sie akzeptiert im anderen den eigenen Mangel, ist die radikale Bejahung des anderen – trotz oder gerade wegen seiner Unvollständigkeit.
Das Begehren hingegen akzeptiert nicht, es verlangt. Es macht das Gegenüber zum Mittel der eigenen Befriedigung. Liebe unterbricht die ökonomische Logik des Begehrens. Insofern ist sexuelles Begehren nicht als Steigerung der Liebe zu verstehen, sondern vielmehr als ihr Gegenstück.
Andernfalls gerät man in die missliche Lage, die Liebe in unzählige Formen unterteilen zu müssen, um zu erklären, warum etwa die Liebe zu Familienmitgliedern nicht in sexuelles Begehren übergeht.
In diesem theoretischen Irrweg verlor sich Erich Fromm (vgl. Die Kunst des Liebens). Seine Differenzierung zwischen romantischer Liebe, familiärer Liebe, Nächstenliebe, Gottesliebe usw. kann potenziell ins Unendliche – bis hin zur „Liebe“ zu Laminatböden – fortgeführt werden und verliert so ihre Bedeutsamkeit.
Dass Liebe und Begehren getrennt voneinander auftreten können, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Natürlich ist besonders ihre Koexistenz und Wechselwirkung reizvoll, doch ein grundsätzlicher Unterschied bleibt bestehen.
Sexualität ist durch eine innere Spannung gekennzeichnet – ein Verlangen nach dem Objekt des Begehrens. Sie objektifiziert den anderen in ein phantastisches Schauspiel.
Objektifizierung ist keine moralische Abweichung oder bloße Entmenschlichung, sondern die Struktur des Begehrens. Besonders deutlich wird dies in Praktiken wie Rollenspielen oder Fetischszenarien, in denen die Objektifizierung nicht nur implizit geschieht, sondern bewusst inszeniert wird. Sonst läuft sie weitestgehend unbewusst, aber immer nach demselben Prinzip.
Dass das sexuelle Begehren nicht entspringt der Akzeptanz der Liebe entspringt, heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht bereichern können. Während das Begehren erregt, verleiht die Liebe der Sexualität eine Tiefe, die über die bloße Erfüllung eines Verlangens hinausgeht.
Die Kunst der Objektifizierung
Trotzdem bleibt die Idee, in der Sexualität liebevoll die wahre Essenz des Menschen zu erkennen und ihn so zu sehen wie er wirklich ist, selbst eine Phantasie. Gerade die Vorstellung, sich in der Sexualität völlig jenseits aller Masken, Rollen und Projektionen zu begegnen, ist die ultimative Illusion.
Sexualisierung bedeutet immer eine Fokussierung auf die attraktiven Aspekte des Gegenübers. Durch diese selektive Wahrnehmung entsteht ein Zerrbild, das mit der realen Person zwar eine gewisse Schnittmenge hat, sich doch grundlegend unterscheidet. Die Interaktion mit dieser abstrakten Version des Anderen kann keine Intensivierung oder „reinere“ Form zwischenmenschlicher Kommunikation sein, weil sie außerhalb der Erregung nicht existiert. Sie ist eine Ausnahme mit der andere Regeln gelten.
Man stelle sich vor, im Alltag ein ähnliches Verhalten an den Tag zu legen wie beim Sex. Selbst harmlose sexuelle Botschaften wie „Ich gehöre ganz dir“ würden außerhalb dieses Kontextes entweder als Floskel oder Abhängigkeit empfunden werden.
Sex ist zwar ein Gespräch, passiert aber jenseits der Konventionen und Kategorien der Normalität.
Dass Sexualität immer inszeniert ist, bedeutet jedoch nicht, dass sie „falsch“ ist – sondern dass sie eine Kunstform ist. Wie die Kunst lebt das Begehren von seiner Zwecklosigkeit, es ist die Freude des Strebens, nicht die des Erreichens.
Kunst und Begehren sind nicht auf ein finales Ziel ausgerichtet. Beide entfalten sich in einem unendlichen Prozess – in einer Bewegung, die sich immer selbst überholt. Ginge es nur um die Befriedigung eines biologischen Triebes, würde sie zu einer phantasielosen Notwendigkeit.
Sexualität ist kein Mittel zu einem Zweck. Sie ist ein Selbstzweck, schöpft ihren Sinn aus sich selbst. Insofern ist sie strukturell pervers – sie steht nie für sich selbst, sondern verweist immer auf etwas anderes, ist Ausdruck einer tieferliegenden, meist unbewussten Sehnsucht.
Ihr Reiz besteht nicht in der Erfüllung, sondern in der Inszenierung des Unerfüllbaren. In ihr zeigt sich die Menschlichkeit in ihrer reinsten Form.
Eine phantastische Kreation grenzenloser Exzesse ohne funktionalen Sinn. In der Sexualität wird der Mensch zur reinen Bewegung des Begehrens, das sich selbst antreibt, sich inszeniert, sich steigert – und doch nie zur Ruhe kommt. Die Objektifizierung schafft eine Distanz, um einen Raum zu eröffnen, in dem wir das Begehren in seiner reinsten Form erleben können.
Partner in Crime
Gerade weil die Objektifizierung in einem so offensichtlichen Kontrast zur Liebe steht, entsteht durch diesen Übergang eine besonders hohe Intensität.
Die meisten Beziehungen sind tatsächlich eher in der ökonomischen Struktur des Begehrens organisiert. Mit der Ausbreitung der marktwirtschaftlichen Prinzipien auf das Privatleben verkommen Beziehungen zur ökonomisch strukturierten Partnerschaft.
Es geht nicht mehr um das Entdecken des Anderen, sondern darum, jemanden zu finden, der wie ein Puzzlestück perfekt ins eigene Leben passt und bereichert.
Potenzielle Beziehungspartner werden manifestiert, nach ihren Werten selektiert, durchleuchtet und darauf geprüft, ob sie der eigenen Stellenbeschreibung entsprechen.
Denn bevor man in eine Person investiert, muss man sicher sein, dass der Andere nicht anders ist als man ihn haben will.
Er braucht die richtigen Ziele, Mindset und Fähigkeiten, um seine Funktion erfüllen zu können. Sonst wäre es verschwendete Energie, die dem eigenen Ich fehlen würde. Bloß keine Fehlinvestitionen. Es soll ein Mehrwert geschaffen werden. Was könnte romantischer sein als das Vokabular der Marktwirtschaft?
In solchen Fällen ist die Sexualität tatsächlich nur eine Purifizierung der grundlegenden Dynamik. Sie entfernt lediglich den Schleier des romantischen Ideals und zeigt die zugrunde liegende Mechanik des Begehrens.
Hier geschieht keine echte Transformation – nur die Offenlegung dessen, was ohnehin immer schon da war. Wie gesagt: Nichts Besonderes.
In einer echten Liebesbeziehung hingegen ist die sexuelle Objektifizierung ein waghalsiger Sprung in eine andere Welt. Heraus aus der bedingungslosen Akzeptanz des Anderen, kopfüber in das rohe, primitive Verlangen zu stürzen, ist unendlich spannend.
Wie kann man nur es wagen? In diesem unverschämten Akt wird der Geliebte zu einem Partner in Crime gegen die Liebe. Nach all dem, was man gemeinsam erlebt und aufgebaut hat, den anderen einfach so zu ficken. Wahnsinn.
Das Begehren begehrt zu werden
Einer der Gründe, warum in vielen Beziehungen das sexuelle Begehren mit der Zeit nachlässt, ist, dass man sich irgendwann nicht mehr traut, den Anderen einfach zum Objekt der eigenen Gelüste zu machen.
Es fühlt sich falsch an – als wäre es eine Respektlosigkeit gegenüber der Person, die man liebt. Ironischerweise ist gerade dieser Respekt der größte Affront.
Ich erinnere mich an ein Paar. Alles lief, außer im Bett. Im Gespräch erklärte der Mann seiner Frau, dass er gerade weil er sie über alles liebe, sie als wunderbare, einzigartige Person sehe – er genau deshalb seine primitiven sexuellen Phantasien an ihr nicht ausleben könne.
Die Frau fühlte sich unendlich beleidigt und gekränkt. In diesem Sinne zurecht: Nicht als Objekt des Begehrens zu taugen, bedeutet nicht, begehrenswert zu sein.
Die Moral von der Geschichte? Aller Liebe zum Trotz muss man den Partner in der Sexualität vom Objekt des Begehrens machen. Darin besteht kein Widerspruch zur vollen Anerkennung der Liebe, sondern ihre notwendige Ergänzung.
Die grundlegendste Form des Begehrens ist es, das Objekt des Begehrens des anderen zu sein. Wer sich z.B. wünscht, von einem dominanten Part „einfach genommen zu werden“, will nicht bekommen, was er begehrt, sondern er will begehrt werden. Meistens ergibt sich die Befriedigung daraus, die Bedürfnisse des anderen zu befriedigen.
Auch der scheinbar dominante, sogar der Sadist, zieht seine Lust aus der Befriedigung des anderen.
*Deswegen schreibt Deleuze in seiner Stellungnahme zum Sadomasochismus, dass es sich dabei eher um einen gemeinsamen Masochismus mit verschiedenen Rollenverteilungen handle. Ein echter Sadist würde es nicht genießen, die masochistischen Phantasien seines Gegenübers zu befriedigen. In seiner Definition wäre ein Sadist der Vergewaltiger, Kidnapper oder dergleichen.
Von der Unmöglichkeit zur Unendlichkeit
Außerdem ist es vor allem in längeren Beziehungen wichtig zu verinnerlichen, dass es nicht um die Erfüllung des Begehrens geht.
Bleiben wir bei der Sexualität als eine Kunstform, so steht sie in erster Linie für sich selbst, führt ein Eigenleben und entzieht sich jedem Anspruch.
Wer sie benutzen möchte, wird Galens „Omne animal post coitum triste“ (lat. „Jedes Tier ist nach dem Geschlechtsverkehr traurig") am eigenen Leibe zu spüren bekommen.
Wer sich dieser Erkenntnis verschließen will, ist gezwungen, das Objekt des Begehrens immer weiter zu wechseln, um die Hoffnung zu erhalten, dass es eines Tages doch vollkommen befriedigt wird.
Da sich das Begehren immer wieder neu ausrichten muss, erscheint der Partnerwechsel oft als der vielversprechendste Weg, diese Spannung zu erhalten. Viele Fälle von Beziehungsunfähigkeit oder Untreue basieren auf dieser Abwehr.
Ständig wechselnde Partner können die Hoffnung am Leben halten, dass einer endlich den Mangel füllen wird.
Es muss aber nicht unbedingt ein neuer Partner sein. Auch neue Praktiken mit demselben Partner. Daher die alte Weisheit, dass es wichtig wäre, Neues auszuprobieren, um die Sexualität in einer Partnerschaft am Laufen zu halten. Doch ist die Phantasie zwar sehr kreativ, aber die Umsetzbarkeit meistens begrenzt, weswegen die Abwechslung der Praktiken als Strategie irgendwann ausläuft.
Wer aber erkennt, dass es in der Sexualität nicht um Erfüllung, sondern um ein Spiel mit der Unerfüllbarkeit geht, gewinnt eine unendliche Freiheit.
Ein letztes Aufbegehren
Hier verlasse ich Lacan und Zizek. Der entscheidende Moment liegt nicht in der Freisetzung der Phantasien. Sonst würden wir wieder bei der pornographischen Version der Sexualität als Masturbation am Partner enden.
Die Sexualität enthält zwar zwangsläufig die Projektion der eigenen Phantasien auf ein Gegenüber als Objekt des Begehrens, darf aber nicht dort enden. Sonst wird die Unmöglichkeit der Erfüllung des Begehrens irgendwann zur Unmöglichkeit der Beziehung.
Nur durch die Potenzierung einer dynamischen Wechselwirkung wird es möglich, in gewisser Weise das Phantasma zu durchqueren. Doch das bedeutet nicht, am Ende doch noch in einer „wahren“ Begegnung anzukommen – es gibt kein Jenseits des Begehrens.
Durchqueren bedeutet für mich nicht nur, zu erkennen, dass alles Phantasie ist, sondern gemeinsam die kleinen Oasen innerhalb des phantasmatischen Schleiers zu entdecken.
In diesen Momenten geschieht etwas, das über bloße Objektifizierung hinausgeht. Natürlich nicht die bereits ausgeschlossene reale Begegnung. Vielmehr eine dermaßen Freisetzung, dass die fluiden Phantasien zu einer Art Meta-Phantasie verschmelzen, die beide Partner umschließt. Ein rein quantitativer Unterschied kann zu einer qualitativen Veränderung führen.
Diese Meta-Phantasie ist kein Kompromiss zwischen zwei individuellen Wünschen – sie ist eine emergente Struktur, die sich niemand vollständig aneignen kann.
Sie entsteht spontan, entwickelt ihre eigene Lebendigkeit – und die Beteiligten erleben sich weniger als Akteure, sondern als Zeugen dieses Prozesses.
Statt zwei Individuen, die bloß ihre Gelüste aneinander abarbeiten, entsteht ein Raum, in dem sich das Begehren jenseits vorhersehbarer Muster selbst entfaltet.
Vielleicht ist dieser Teil aber auch nur mein eigenes Begehren, nachdem ich fast ausschließlich die Arbeiten anderer paraphrasiert habe, auch etwas eigenes hinzuzufügen. Es ist schwer zu sagen.
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