Empathie entmystifiziert: Die Gefahren emotionaler Ansteckung
- Jonas Billstein
- 15. Okt. 2024
- 10 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Okt. 2024
Die Empathie ist der heilige Gral der Moderne. Empathisch zu sein, ist eine Auszeichnung. Eine Tugend. Gleichzeitig behaupten viele Menschen, unter dieser Eigenschaft zu leiden, weil es ihnen erschwert, sich ausreichend von den Empfindungen und Gefühlen anderer abzugrenzen.
Dabei handelt es sich allerdings um eine Begriffsverwirrung. In diesem Artikel wird gezeigt das mangelnde Ich-Grenzen keineswegs im Zusammenhang mit Empathie steht.
Hinter dem Begriff verbinden sich verschiedene Konzepte. In diesem Beitrag geht es deshalb darum, aufzuzeigen, wie im Laufe der Zeit die Tendenz von der ursprünglichen Bedeutung, dem Projizieren der eigenen Emotionen, über das Einfühlen in einen anderen immer weiter in Richtung emotionaler Ansteckung gedriftet ist und welche Probleme diese Verschiebung mit sich bringt.
Es wird gezeigt, dass erwachsene Empathie keineswegs bedeuten kann, die Gefühle anderer zu übernehmen. Es ist kein ‚Zuviel‘ an Empathie, das zu der Wahrnehmung führt, den Empfindungen der anderen ausgeliefert zu sein, sondern ein gänzlich anderes Phänomen, welches sich ergibt, wenn Ich-Grenzen nicht ausreichend entwickelt oder wahrgenommen werden. Sicherlich kann echte Empathie im Sinne eines gefühlsvollen Miteinander auch für Menschen erlebbar sein, die in manchen Kontexten dazu tendieren ihre Ich-Grenzen zu überschreiten, aber um letzteres zu vermeiden ist es wichtig beide Phänomene von einander zu trennen. Auch begrifflich. Empathie ist nicht gleich emotionale Ansteckung.
Die Geschichte der Empathie
Was viele nicht wissen ist, dass der Begriff der Empathie noch sehr jung ist. Erstmals tauchte er 1908 auf. Damals mit einer vollkommen anderen Bedeutung. Genauer gesagt bedeutete er das Gegenteil des heutigen Verständnis.
Der Begriff stammt (wie z.B. die Romantik) aus der Kunst und beschrieb die Fähigkeit, seine eigenen Gefühle und Vorstellungen auf Kunstobjekte zu projizieren. Abstrakte Linien erscheinen wie in fließender Bewegung, weil sie die innere Dynamik des Betrachters widerspiegeln.
Basierend auf der "Theorie zur Einfühlung" von Theodor Lipps (1851-1914) begannen Psychologen in den 30er Jahren, dieses Konzept auf den Menschen anzuwenden. Jemand könnte zum Beispiel seine eigenen Erinnerungen von Traurigkeit auf die Expressionen einer anderen Person anwenden, um ein tieferes Gefühl für das Gegenüber zu bekommen.
Es ging also darum, eine Resonanz zu schaffen durch das einbringen der eigenen Gefühle.
Im Zweiten Weltkrieg wurde von deutschen Wissenschaftlern damit experimentiert, ob es möglich ist, mit Empathie Aussagen über die Absichten und Gefühle einer anderen Person zu treffen, ohne diese durch die eigenen Ideen zu kontaminieren. Der zeitliche Kontext legt nahe, dass diese Forschung nicht im Sinne des Miteinanders getroffen wurde, sondern eher als Machtinstrument eingesetzt werden sollte.
Empathie wurde seit dem zunehmend als die Fähigkeit definiert, präzise Vorhersagen über die Gedanken und Gefühle anderer zu treffen, ohne sie durch die eigenen Gefühle zu beeinflussen. Hier zeigt sich ein Übergang von der Intention, einfühlsame Verbindungen zu fördern, hin zum Lesen (und Kontrollieren) von Menschen.
Aus der subjektiven Interaktion, in der Empathie als ein Zusammenkommen verschiedener Positionen beschrieben wird, entstand die Phantasie einer gottähnlichen Position, von der aus eine Beobachtung ohne Beobachter möglich wird. Andere lesen zu können, fasziniert seit jeher vor allem diejenigen, die durch diese Fähigkeit irgendeine Art von Überlegenheit erreichen wollen.
Carl Rogers und die Empathie
1950 wurde dieser Ansatz von dem Psychotherapeuten Carl Rogers (1902-1987) aufgegriffen und von seinen weniger ruhmreichen Ursprüngen gereinigt.
Rogers ist der Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie, deren Prämisse darin besteht, dass der Therapeut positiv, wertschätzend und echt über die emotionalen Erlebnisinhalte des Klienten sprechen soll, ohne eigene Inhalte in das Gespräch einzubringen. Selbst Fragen darf der Therapeut nicht stellen.
Diesen Ansatz begründet Rogers mit dem im Menschen biologisch angelegten individuellen Drang zum Wachsen, zur Gesundheit und zur Anpassung (Aktualisierungstendenz): "Der Mensch hat eine angeborene Tendenz zur vollständigen Selbstentfaltung ... Sie ist das Fundament, auf dem der personenbezogene Ansatz entwickelt wurde."
Weil dieser jedoch durch unser Bewusstsein, das Rogers als "eine der jüngsten evolutionären Errungenschaften unserer Gattung" ansieht, unterdrückt wird, muss der im Unterbewusstsein ansässige Trieb zur Selbstverwirklichung wieder befreit werden. Dafür sei es wichtig, dem Patienten durch bedingungslose Akzeptanz Raum für Selbstausdruck zu geben. Es geht nicht darum, ein konkretes Problem zu lösen, sondern das Individuum selbst in den Mittelpunkt zu stellen und spüren zu lassen, dass es so, wie es ist, angenommen und gesehen wird.
Regine Scholz enthüllt in ihrer Kritik an Rogers, dass dieser individualistische Ansatz die Ursprünge der Störungen vollkommen ignoriert und stattdessen die Versprechung auf einen Wiedereintritt in die verlorene Einheit der Natur fortsetzt, die bisher durch Religion vermittelt wurde. Seine Geschichte vom Menschen, dem es in seiner Biologie an nichts mangelt, bis er durch das Bewusstsein von ihr entfremdet wurde, ist nichts als eine Wiedererzählung des Rauswurfs aus dem Paradies. Seine Empathie ist die Liebe Gottes und ermöglicht eine Rückkehr in den verlorenen Zustand der Harmonie.
Problematisch wird dieser Ansatz vor allem durch die bereits erwähnte Nichtbeachtung der sozialen Zusammenhänge und generell der Entstehung der Symptome des Patienten. Der Erfolg Rogers wurde wohl nicht zuletzt dadurch gewährleistet, dass seine Philosophie die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen außer Acht lässt und die Schuld für den Zustand dem Individuum selbst zuschreibt. Sein Humanismus fungiert als eine Rechtfertigung, eine Ergänzung für inhumane Umstände, die zu den Problemen geführt haben.
Der Mensch ist kein autarkes System, sondern ein soziales Wesen, anfällig für Missstände seiner Umwelt. Insofern muss seine Position auch in Relation zu den Umständen seiner Zeit betrachtet werden. Er lebte im kapitalistischen Amerika, während sich in anderen Teilen der Welt der Kommunismus für die Abschaffung der Klassengesellschaft einsetzte, deren Auswirkungen er in seinen Arbeiten so vehement übergeht.
Lucien Sève schreibt: “Diese ganze Abhandlung (Rogers) über die 'Entfremdung' hat ihre Existenzberechtigung in dieser unterwürfigen Rechtfertigung des kapitalistischen Privateigentums... Apologie der Klassenkollaboration zu einem Zeitpunkt, wo der Klassenkampf im Begriff ist, entscheidende Siege davon zu tragen.”
Regine Scholz: "Durch die Verschleierung und damit im Ergebnis Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse trägt die Konzeption von Rogers zur Fortexistenz derjenigen inhumanen Lebensbedingungen bei, deren Reflex sie ist. Der Humanismus der humanistischen Psychologie erweist sich schließlich als Legitimation und Festschreibung der Inhumanität. Eine Ursache für das Bedürfnis nach 'Religion' ist die Unwissenheit. Rogers leistet keinen Beitrag zur Aufhebung der Unwissenheit der Menschen über die Mächte, die sie beherrschen. Damit wirkt er mit an der weiteren Bedürftigkeit der Menschen für 'Religionen' wie der seinen, die sich zudem noch einen größeren Wirkungskreis sichert, indem sie vorgibt, keine Religion, sondern Wissenschaft zu sein."
Abschließend lässt sich also sagen, dass Rogers' Konzept der Empathie, bedingungslose Annahme und Spiegelung ohne persönlichen Input, wenn überhaupt nur in einem sehr isolierten Rahmen (dem der klientenorientierten Therapie) existieren kann, weil er die Umstände der Äußerungen, inklusive des Gesprächspartners, weitestgehend ausklammert. Das soll jedoch nicht bedeuten, es als Ganzes abzulehnen. Ich persönlich stimme mit mehr Punkten von Rogers' Philosophie überein als mit der seiner Kritiker, aber auch ich bin in westlicher Mentalität aufgewachsen und erlebe in der Praxis täglich die Folgen ihrer Tendenz zur Individualisierung.
Wie in den meisten kapitalistischen Gesellschaften hat die Konkurrenz längst die Grenzen der Geschäftswelt überschritten, und Menschen werden ermutigt, in allen Lebensbereichen wettbewerbsfähig zu sein, was zu Angst, Missgunst und einem Gefühl der Unzulänglichkeit führen kann. Wird dieser soziale Aspekt der Symptome nicht konkretisiert, verkommt seine Empathie zu einer Art Opium ohne Potenzial zur Veränderung.
Rogers' Zentrierung des Individuums bedeutet, jeder sei seines Glückes Schmied, und sucht somit die Schuld bei den Betroffenen, was die Grundlage für ein Empathieverständnis legt, das die Intersubjektivität innerhalb jeder menschlichen Beziehung nicht zur Kenntnis nimmt.
Emotionale Ansteckung durch Spiegelneuronen
Rogers etablierte also die Vorstellung der Empathie als etwas, das man für jemanden tut. Sie beinhaltet eine gewisse Selbstaufgabe seitens des Empathischen, der ohne eigenen Anteil die Gefühle anderer wahrnimmt oder selbst fühlt.
Dieses Konzept wurde von Autoren aus verschiedensten Richtungen übernommen und verbreitet, bis es im Mainstream schließlich den therapeutischen Rahmen, in dem es von Rogers kreiert wurde, verlassen hatte.
Ein Beispiel dafür finden wir bei Daniel Goleman, einem Harvard-Professor, der für seine Bücher zur emotionalen Intelligenz bekannt ist. Er bezieht sich auf Rogers und nutzt Erkenntnisse aus der Neuroforschung, um zu behaupten, dass Gefühle ansteckend seien: "Wir fangen Gefühle ein wie einen Grippevirus, was zu einer Art Gefühlsgrippe führen kann." Nach Goleman ist das emotionale Erleben eines Individuums das Resultat der Gefühle, die es aus Begegnungen mit anderen Menschen aufnimmt. Daher plädiert er für eine bewusste "Ökonomie der Gefühle".
Es ist unschwer zu erkennen, dass Goleman als Wissenschaft getarnte Selbsthilfebücher mit Anleitungen für ein erfolgreicheres und glücklicheres Leben verkauft. Emotionale Intelligenz ist als eine Anleitung, ein Leitfaden und somit ein Produkt, "sicherlich nicht die Antwort auf ein natürliches Bedürfnis, wie auch die zwölfte Variante eines Früchtejoghurts nicht produziert wird, um ein natürliches Bedürfnis danach zu stillen. Früchtejoghurt und emotionale Intelligenz wurden geschaffen, um sich ihre Märkte zu erobern, um Bedürfnisse zu wecken nicht sie zu befriedigen." (Hannelore Weber)
Dies zeigt sich in seinen komplexen Metaphern, die den Menschen als hilflos gegenüber den Emotionen anderer darstellen. Das begründet er unter anderem durch die kurz vor der Publikation seines Buchs "Emotionale Intelligenz" entdeckten Spiegelneuronen. Damit ist er einer der vielen Autoren, die den anfänglichen Hype dieser Entdeckung von den Neurobiologen Vialanur S. Ramachandran und seinen Kollegen zur Grundlage ihrer eigenen Theorie gemacht haben.
In der Neurobiologie wurden allerdings ein Großteil der Annahmen wieder zurückgezogen und viel wichtiger, es wurde nie von etwas wie emotionaler Ansteckung gesprochen.
Dieser Begriff entstand ursprünglich bei der Beobachtung von Kleinkindern, die sensorisch noch nicht in der Lage sind, vollständig zwischen sich und ihren Mitmenschen zu unterscheiden.
Dr. Dr. Damir del Monte beschreibt die emotionale Ansteckung als eine Art Vorstufe der Empathie. Bleibt diese im Erwachsenenalter bestehen, obwohl die Wahrnehmung spätestens nach der Pubertät innerhalb klarer Ich-Grenzen zwischen Ich und Du auch auf emotionaler Ebene unterschieden werden sollte, spricht das für eine Entwicklungsstörung, nicht für mangelnde emotionale Intelligenz.
Wer trotzdem den Anweisungen von Daniel Goleman & Co. folgt, macht diese fehlgelaufene Entwicklung zum Ausgangspunkt seines Lebens.
Das ist genauso logisch, wie nach einem Oberarmbruch nicht zum Arzt zu gehen, sondern einen Experten für "Leben mit einem gebrochenen Oberarm" aufzusuchen, um Methoden zu erlernen, trotz der Behinderung einigermaßen gut leben zu können, anstatt den Arm richten zu lassen, damit er in kurzer Zeit heilen kann.
Menschen müssen nicht lernen, Grenzen zu setzen, weil sie in einer gesunden Entwicklung ganz automatisch entstehen. Wenn das nicht passiert, ist es jederzeit möglich, diesen Prozess nachzuholen. Diese Grenzen bestehen unbewusst, man könnte sagen biologisch. Sie können nicht kognitiv kompensiert werden.
Doch genau dazu soll die emotionale Intelligenz eingesetzt werden. Sie verspricht keine Freiheit, sondern totale Kontrolle über die Ökonomie der Emotionen. Dass der Mensch durchaus in der Lage wäre, seine Emotionen selbst zu verarbeiten und von denen der anderen zu unterscheiden, wird durch eine Unmenge an nichtssagenden Studien kaschiert, sodass nichts übrig zu bleiben scheint, als seine Emotionen nach den Gesetzmäßigkeiten des Marktes mit anderen auszuhandeln.
Letztlich bietet Goleman nichts Originelles; seine Botschaften ähneln alten Tugendlehren: Sei positiv, fleißig und umgebe dich mit Gleichgesinnten, dann wirst du Erfolg haben.
Das Individuum erhält somit nichts als ein weiteres Kriterium, sich selbst und andere zu bewerten. Es wird angehalten, seine Emotionen stets im Auge zu behalten und seine Mitmenschen danach auszuwählen, wie positiv sie sind. Wer befürchtet, sich bei anderen anstecken zu können, wird misstrauisch und bleibt in einer Hab-Acht-Stellung.
Zur Psychologie von heute
In "Psychologie heute", einer der renommierten Internetplattformen für psychologische Themen, findet sich eine Definition von Empathie, anhand derer sich die Begriffsverwirrung gut veranschaulichen lässt:
"Emotionale Empathie lässt uns also empfinden, was unser Mitmensch empfindet. Sie beschreibt unsere emotionale Antwort auf seinen Gefühlszustand. Dazu muss der andere nicht unbedingt anwesend sein; ja, er braucht nicht einmal zu existieren: Die Schicksalsschläge der Protagonistin eines Kinofilms oder einer Romanfigur können uns ebenfalls zu Tränen rühren."
Es beginnt also mit der besagten These der Gefühlsübertragung von einem Menschen auf einen anderen, wobei der Übertragende gar nicht existieren muss. Wie kann es dann, wie behauptet, eine Antwort auf den Gefühlszustand sein, wenn dieser Gefühlszustand gar nicht existiert? Abgesehen davon, dass es im vorangegangenen Satz hieß, es würde die gleiche Empfindung sein, wobei eine Antwort ja einen Unterschied zwischen Ausgehenden und Antwortenden voraussetzen würde, kann es keine Antwort auf etwas geben, was gar nicht existiert.
In gefährlicher Verkennung wird das Wahrgenommene, die äußere Erscheinung, mit dem Inneren gleichgesetzt. "Was du in mir auslöst, muss auch das sein, was du selbst fühlst", lautet die Logik, die sich spätestens mit der Nichtexistenz des Auslösenden als schierer Wahnsinn entpuppt.
Aller Lächerlichkeit zum Trotz bilden sich Überzeugungen zumeist leider aus der Häufigkeit, in der eine Information aufgenommen wird, nicht aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit, und unser Sprachraum ist voll von Behauptungen wie dieser.
Sie bleiben allerdings sinnlos und gefährlich.
Einfühlungsvermögen
Empathie bedeutet also nicht, die Gefühle anderer zu fühlen. Das ist aus mehreren Gründen vollkommen unmöglich.
Emotionen und Gefühle sind physische Prozesse, die im Körper stattfinden. Sie haben kein Eigenleben, das es ihnen ermöglichen würde, von einer Person zur anderen zu springen. Stattdessen sind sie biochemische Veränderungen, die innerhalb eines Individuums auftreten. Menschen werden als Individuen bezeichnet, weil jeder einen einzigartigen Körper hat, der unterschiedliche biochemische Dispositionen aufweist. Ähnlich wie bei Fingerabdrücken unterscheidet sich jeder menschliche Körper in seiner Gesamtheit von anderen.
Selbst Gefühle, die mit denselben Begriffen bezeichnet werden, können aufgrund der unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen, unter denen sie erlebt werden, unterschiedlich wahrgenommen werden. Zum Beispiel kann sich Angst für Person A ganz anders anfühlen als für Person B. Diese Unterschiede in der Wahrnehmung sind auf die individuellen biologischen und chemischen Bedingungen jedes Einzelnen zurückzuführen.
Wir interpretieren und imitieren, was wir wahrnehmen. Die menschliche Wahrnehmung ist extrem begrenzt. Nur ein Bruchteil der Gefühlsäußerungen eines Gegenübers wird überhaupt wahrgenommen und dann anhand der eigenen Disposition interpretiert. Forschungen zu Spiegelneuronen haben beispielsweise ergeben, dass Menschen mit Angststörungen bei anderen den Ausdruck Überraschung, Ekel und sogar Begeisterung zehnmal wahrscheinlicher als Angst interpretieren als Menschen ohne Angststörung.
Spiegelneuronen sind leicht zu täuschen. Man muss sich nur klarmachen, dass auch Schauspieler, Zeichentrickfiguren und im Prinzip jedes Objekt bei uns empathische Reaktionen auslösen können, ohne selbst ein entsprechendes Gefühl zu empfinden. Somit wären wir wieder bei der ursprünglichen Begriffsdefinition angekommen, die ein Projizieren der eigenen Emotionen auf etwas Wahrgenommenes bedeutet. Das zeigt, wie flexibel und komplex unsere emotionalen Reaktionen sind und wie sie von unserem Kontext, unseren Erfahrungen und unserer Vorstellungskraft abhängen.
Zwei empathische Menschen werden bei der Beobachtung einer Person verschiedene Empfindungen haben. Nicht weil sie unterschiedlich empathisch sind, sondern einfach, weil sie unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Wahrnehmungsstrukturen und Resonanzkörpern sind.
Mit diesen Einsichten wird eine Renaissance des Empathiebegriffes von Theodor Lipps möglich, der sie als „ein inneres Mitmachen, eine imaginierte Nachahmung des Erlebens des Anderen“ beschrieb. Diese setzt die Unterscheidung zwischen den eigenen Empfindungen und denen der anderen voraus. In seinen "Schriften zur Einfühlung" formuliert er: "Bei sich selbst ist man zu Hause, in den Anderen hingegen muss man sich einfühlen."
Einfühlung braucht ein Bewusstsein und auch Respekt für den anderen als eigenständiges Individuum. Man kann versuchen, seine Empfindungen nachzuempfinden und so eine Resonanz, eine Form des würdevollen Austauschs, zu schaffen.
Emotionale Ansteckung hingegen überschreitet die Grenzen eines würdevollen Miteinanders.
Die Vorstellung, Fremde könnten mich mit ihren Emotionen infizieren, legitimiert übergriffiges Verhalten, weil sie impliziert, dem Innenleben des Gegenübers ausgesetzt zu sein und sich dementsprechend bei Nichtübereinstimmung mit eigenen Vorstellungen ein Eingreifen in den anderen als die einzige Alternative zur Abgrenzung darstellt.
Fazit
Abschließend lässt sich sagen, dass die Entwicklung des Empathiebegriffes bezeichnend ist für den zunehmend isolierenden Individualismus der Moderne. Auf dem Spektrum vom Projektieren der eigenen Innenwelt bis zur Infizierung mit den Gefühlen anderer findet wohl sich in der Mitte eine Position, in der die individuelle Perspektive in einen gefühls- und würdevollen Austausch mit der Umwelt treten kann.
Das erfordert ein Bewusstsein für die Eigenständigkeit anderer und das Respektieren ihrer Grenzen. Emotionaler Austausch sollte nicht in die Richtung eines übergriffigen Verhaltens führen, sondern die Individualität und Integrität jedes Einzelnen respektieren.
So muss sich der Empathische auch keine Sorgen machen, fremden Emotionen ausgeliefert zu sein.
https://www.researchgate.net/publication/23294544_Theodor_Lipps_and_the_Concept_of_Empathy_1851-1914
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